Berliner Diözese der
         Russisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland
                                     - Körperschaft des öffentlichen Rechts -
                                       Wildensteiner Str. 10, 10318 Berlin

      Gemeinsame Verantwortung - gelungenes Zusammenleben

                      Thematische Grundgedanken und Leitlinien
                      aus der Sicht der Russisch-Orthodoxen Kirche

Vorgelegt zur Erarbeitung des nationalen Integrationsplans
G5 „Integration vor Ort“


von Abt Daniel Irbits         

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Inhalt

1 Statement der Russisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland
2 Identität und Integration
3 Mitwirkung der Glaubensgemeinschaften
4 Teilhabe am politischen Leben
5 Kriminalitätsprävention
6 Familie als Ort der Integration
7 Demographiewandel
8 Kultur und Bildung
9 Sprache
10 Verantwortung der Massenmedien

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1. Statement der Russisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland

Die Kirche fordert alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zur Beteiligung am öffentlichen Leben auf, zu einer Beteiligung, die auf den Prinzipien der christlichen Moral beruhen soll. Die Teilnahme eines jeden Menschen am Leben der Welt soll vom Verständnis getragen sein, dass die Welt, die Gesellschaft und der Staat Gegenstände der Göttlichen Liebe sind.

Die Kirche erfüllt den Heilsauftrag am Menschen durch die Verbesserung des spirituell-moralischen Zustands. Mit Blick darauf tritt sie in Beziehung zum christlich geprägten Staat sowie zu verschiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen und einzelnen Menschen, selbst wenn sie sich mit dem christlichen Glauben nicht identifizieren. Die Kirche vertraut darauf, dass gemeinsames Wohl den Menschen hilft, die Treue zu den gottgegebenen sittlichen Normen zu bewahren oder wiederherzustellen, ihnen den Weg zu Frieden und Eintracht eröffnet.

Die nachstehenden Grundsätze sind der ausführlich gehandelten Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche entnommen, die im Jahre 2000 vom Bischöflichen Jubiläumskonzil zum zweitausendjährigen Bestehen des Christentums beschlossen wurden.

2. Identität und Integration

Die bürgerliche Identität bezieht sich in gleicher Weise auf die Nation als ethnische Gemeinschaft als auf die Gemeinschaft der Staatsbürger. Jeder Bürger ist aufgerufen, sein Heimatland, im Sinne eines bestimmten Territoriums, zu lieben. Diese Liebe ist eine Art, das göttliche Gebot der Nächstenliebe zu befolgen, welches die Liebe zur Familie, zu den Staatsangehörigen sowie den Mitbürgern einschließt.

Die Identitifikation der Bürger und Mitbürger mit ihrem gemeinsamen Land soll tätig sein. Sie äußert sich im Schutz des Landes gegen äußere Bedrohung, in der Arbeit zum Wohle des Landes, im Einsatz für das öffentliche Leben, einschließlich der Teilnahme an den Angelegenheiten der Staatsverwaltung.

Gleichzeitig können nationale Gefühle Anlass zu sündhaften Erscheinungen geben, wie aggressivem Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, nationaler Auserwähltheit sowie interethnischer Feindschaft. Nicht selten führen diese Phänomene in ihrer äußersten Ausprägung zur Einschränkung der Rechte der Person und der Völker sowie zur Gewalt.

Der christlichen Ethik widerspricht allerdings jede Einteilung der Völker in bessere und schlechtere wie auch die Herabwürdigung jeglicher ethnischer oder bürgerlicher Nation. Noch weniger lässt sich das gute Zusammenleben mit solchen Lehren vereinbaren, die den Glauben lediglich zu einem Aspekt des nationalen Selbstbewusstseins reduzieren.

3. Mitwirkung der Glaubensgemeinschaften

Die Bedeutung der von der Heiligen Schrift gegebenen Normen ist in der heutigen Welt nicht zu unterschätzen. Die Menschen aller bekannten Gesellschaften an, sich Gesetze zu geben, das Böse in Schranken zu halten und das Gute zu fördern. Für das alttestamentliche Volk war Gott Selbst der Gesetzgeber, der Vorschriften verkündete, die nicht ausschließlich nur das religiöse, sondern vielmehr auch das öffentliche Leben regelten (Ex 20-23). Das irdische Wohlergehen ist daher ohne die Beachtung gewisser moralischer Normen undenkbar.

Als unerlässlicher Bestandteil des Lebens ist der Staat von Gott gesegnet. Die Heilige Schrift ruft die Machthabenden auf, die staatliche Gewalt zur Abwehr des Bösen und zur Unterstützung des Guten zu gebrauchen, worin der moralische Sinn der Existenz des Staates gesehen wird (Rom 13.3-4).

Glaubensgemeinschaften sind verpflichtet, gegenüber dem Staat, der die juristische Souveränität über das staatliche Territorium besitzt, Loyalität zu wahren. Der Staat verpflichtet sich, religiös-weltanschauliche Neutralität zu wahren.

Die Staatsgewalt hat nicht das Recht, sich durch Ausweitung ihrer Grenzen bis zur vollen Autonomie gegenüber religiösen Werten selbst zu verabsolutieren, was zu Machtmissbrauch und sogar zur Vergöttlichung der Herrschenden führen könnte.

Das Prinzip der Säkularität darf nicht im Sinne einer radikalen Verdrängung der Religion aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, insbesondere des Ausschlusses der religiösen Vereinigungen von der Mitwirkung bei der Bewältigung öffentlich relevanter Aufgaben.

Glaubensgemeinschaften sind aufgerufen, bei der Integration der Mitbürger mitzuwirken.

Glaubensgemeinschaften dürfen nicht Funktionen an sich ziehen, die zum Zuständigkeitsbereich des Staates gehören, wie etwa: gewaltsamen Widerstand gegen die Sünde, Inanspruchnahme staatlicher Vollmachten, Übernahme von Funktionen der Staatsgewalt, die Zwang oder Einschränkung beinhalten.

Es ist unzulässig, Überzeugungen oder Handlungen zu propagieren, die die Zerstörung der persönlichen, familiären oder gesellschaftlichen Sittlichkeit sowie die Verletzung der religiösen Gefühle zur Folge haben.

Bei der Verwirklichung ihrer sozialen, karitativen, bildungsbezogenen und sonstigen gesellschaftlichen Programme sollen Glaubensgemeinschaften von der Unterstützung und Mitarbeit der lokalen Verwaltung rechnen.

Sie hat auch das Recht zu erwarten, dass der Staat bei der Gestaltung seiner Beziehungen zu den religiösen Vereinigungen auch die Zahl ihrer Anhänger, ihren Beitrag zur Schaffung des historisch-kulturellen und geistigen Erbes des Volkes sowie deren staatsbürgerliche Haltung berücksichtigt.

Gleichzeitig sollen Glaubensgemeinschaften ihre Aufmerksamkeit nicht vornehmlich auf die äußerliche Organisation der Gesellschaft, sondern auf den Zustand der Herzen ihrer Mitglieder richten. Vor diesem Hintergrund dürfen sich Glaubensgemeinschaften nicht als zuständig erachten, Änderungen an der gesellschaftlichen Form anzustreben und keinem bestimmten Staatsaufbau sowie keiner der bestehenden politischen Doktrinen den Vorrang einzuräumen.

Der Staat, einschließlich des säkularen, ist sich in der Regel seiner Berufung bewusst, das Leben des Volkes auf den Grundsätzen des Guten und der Gerechtigkeit zu ordnen und für die materielle und geistige Wohlfahrt der Gesellschaft Sorge zu tragen. Aus diesem Grund sollen Glaubensgemeinschaften in Fragen, die das Wohl der Person und der Gesellschaft betreffen, mit dem Staat kooperieren.

Die Glaubensgemeinschaften sind gefordert, sich an der Ordnung des menschlichen Lebens in allen Bereichen zu beteiligen, in denen das möglich ist, und ihre entsprechenden Bemühungen mit denen der Vertreter der Staatsgewalt in Einklang zu bringen.

Die Bereiche der Zusammenarbeit von Glaubensgemeinschaften und Staat sind:

- Friedensschaffung auf internationaler, interethnischer sowie bürgerlicher Ebene;
- Förderung der
Verständigung und Zusammenarbeit zwischen den Menschen, Völkern und Staaten;
- Sorge um die Erhaltung der Sittlichkeit in der Gesellschaft;

- geistig-spirituelle, kulturelle, sittliche sowie patriotische Bildung und Erziehung;
- Werke der Barmherzigkeit und Wohltätigkeit, Ausarbeitung gemeinsamer Sozialprogramme;
- Schutz, Wiederaufbau und Förderung des historischen und kulturellen Erbes, einschließlich der  Sorge um die Erhaltung von Denkmälern von historischem und kulturellem Wert;
- Dialog mit den Organen der Staatsmacht in allen Sachbereichen und auf allen Ebenen in kirchen- sowie gesellschaftsrelevanten Fragen, einschließlich der Fragen im Zusammenhang mit der Ausarbeitung einschlägiger Gesetze, Verordnungen, Erlasse und Beschlüsse;
- Betreuung des Militärs sowie der Mitarbeiter der Organe der Rechtspflege, ihre geistig-sittliche Erziehung;
- präventive Maßnahmen gegen Rechtsverstöße sowie Betreuung inhaftierter Personen;
- Wissenschaft, einschließlich humanitärer Forschung;
- Gesundheitswesen;
- Kultur und schöpferische Tätigkeit;
- Tätigkeit der kirchlichen und weltlichen Massenmedien;
- Tätigkeit zur Bewahrung der Umwelt;
- wirtschaftliche Maßnahmen zum Wohle von Kirche, Staat und Gesellschaft;
- Förderung der Institution der Familie sowie der Mutterschaft und der
Kindheit;

- Widerstand gegen die Tätigkeit pseudoreligiöser Strukturen, die die Integrität der Person und der Gesellschaft bedrohen.

4. Teilhabe am politischen Leben

Die meisten Integrationsdefizite bestehen da, wo an bewusster politischer Identität besonders mangelt. Die Gesellschaft ist aufgerufen, Rechtsverständnis und politische Beteiligung der Migranten und Migrantinnen zu fördern.

Das Recht enthält ein Mindestmaß an für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlichen sittlichen Normen. Das Kernprinzip des demokratischen Rechtsverständnisses lautet: „Was du nicht willst, das dir zugefügt werde, das füge auch keinem anderen zu.“

Im gegenwärtigen weltlichen Rechtsdenken ist die Vorstellung der unveräußerlichen Menschenrechte zu einem dominierenden Prinzip geworden. Die Idee solcher Rechte entstammt der biblischen Lehre vom Menschen als Ebenbild und Gleichnis Gottes, als einem ontologisch freien Geschöpf.

Die sozialstaatliche Ethik forderte, dem Menschen einen Autonomiebereich zu bewahren, in welchem sein Gewissen „autokratischer“ Herrscher ist. Das Recht auf Glauben, Leben und Familie bedeutet eine Gewähr für die innigsten Grundlagen der menschlichen Freiheit vor der Willkür fremder Mächte. Diese inneren Rechte werden durch andere, äußere, vervollständigt und in ihrer Geltung bestätigt, wie beispielsweise durch das Recht auf Freizügigkeit, Informationsfreiheit, Eigentum, dessen Besitz- und Verfügungsrecht. Das Verständnis dieser Verfassungsrechte soll an alle Neubürger Deutschlands herangetragen werden.

Glaubensgemeinschaften sind berufen, ihre Kinder dazu aufzufordern, gesetzestreue Bürger ihres Heimatlandes zu sein.

Die Zuwanderer, die am Aufbau des staatlichen und politischen Lebens beteiligt sind, sind aufgerufen, die Gabe der besonderen Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit zu suchen.

Die Feststellung der autoritären und radikalen Führungsprinzipien soll dem politisch aktiven Laien als Anlass dienen, die Angemessenheit der Fortsetzung seiner Mitgliedschaft in fraglichen politischen Organisationen zu bedenken. Politische Organisationen dürfen nicht nach dem Vorbild von Geheimgesellschaften aufgebaut sein, die die ausschließliche Unterwerfung unter ihre Leader sowie die bewusste Weigerung verlangen, das Betätigungsfeld dieser Organisationen offenzulegen.

5. Kriminalitätsprävention

Die Bekämpfung der Kriminalität sowie die Besserung der Straffälligen sind jedoch nicht nur eine bedeutsame Aufgabe der zu diesem Zweck gegründeten Institutionen, nicht einmal ausschließlich des Staates, sondern der ganzen Gesellschaft.

Die Verbrechensvorbeugung ist vornehmlich durch Erziehung und Aufklärung möglich, die auf die Durchsetzung der wahren geistigen und moralischen Werte in der Gesellschaft angelegt sind. Hinsichtlich dieser Aufgabe ist die intensive Mitarbeit der Glaubensgemeinschaften mit der Schule, den Massenmedien sowie den Strafverfolgungsbehörden gefordert.

Wenn jedoch in der Gesellschaft kein positives moralisches Ideal vorhanden ist, können keine Zwangs-, Abschreckungs- oder Strafmaßnahmen den bösen Willen aufhalten.
Gerade auf diesem Hintergrund ist die beste Form der Vorbeugung gegen Gesetzesverstöße die Predigt einer ehrlichen und würdigen Lebensführung, insbesondere unter Kindern und Jugendlichen. Dabei ist es notwendig, dass solchen Personen, die zu den sogenannten Risikogruppen gehören oder bereits erste Straftaten begangen haben, große Aufmerksamkeit zuteil wird. Diese Menschen bedürfen in besonderer Weise der erzieherischen Betreuung.

Alle Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, sich ebenfalls an der Bekämpfung der sozialen Ursachen der Kriminalität zu beteiligen, indem sie ihren Beitrag zum gerechten Aufbau der Gesellschaft und der Wirtschaft wie auch zur beruflichen und persönlichen Selbstverwirklichung jedes Mitgliedes der Gesellschaft leisten.

Darüber hinaus ist gegenüber den Angeklagten, den Untersuchungshäftlingen sowie denjenigen, die bei einem verbrecherischen Vorhaben ertappt worden sind, ein menschliches Verhältnis zu wahren. Eine harte oder unwürdige Behandlung dieser Menschen kann sie in ihrer Absicht bestärken, auf dem falschen Weg zu bleiben bzw. sie erst auf Abwege bringen. Deswegen dürfen Menschen, die noch nicht kraft richterlichen Spruchs verurteilt sind, die Bürgerrechte nicht entzogen werden, selbst wenn sie bereits in Haft genommen worden sind. Das Recht auf Verteidigung sowie auf unparteiische Richter soll ihnen gewährleistet werden. Jedwede Form von Demütigung der Untersuchungshäftlinge ist inakzeptabel.

In ihrem Wunsch, bei der Verbrechensbekämpfung behilflich zu sein, sollen Glaubensgemeinschaften mit den Institutionen der Strafverfolgung zusammenarbeiten. Eine solche Hilfe kann durch verschiedene gemeinsame, auf Verbrechensvorbeugung gerichtete Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen sowie durch sonstige wissenschaftliche und kulturelle Tätigkeit geleistet werden, des weiteren durch religiöse Betreuung der Mitarbeiter der Justiz selbst.

Jedoch die größte Bedeutung bei der Verbrechensbekämpfung soll der Seelsorge zufallen. Der Geistliche soll jedem, der eine Missetat bereut, nachdrücklich anbieten - als unbedingte Voraussetzung für die Vergebung der Sünde - im Angesicht Gottes der Fortsetzung seines verbrecherischen Tuns abzuschwören. Einzig auf diese Weise kann der Mensch veranlasst werden, den Weg der Gesetzlosigkeit zu verlassen und zu einem tugendhaften Leben zurückzukehren.

6. Familie als Ort der Integration

Die Familie ist ein ganzheitlicher Organismus, dessen Glieder auf der Grundlage des Liebesgebots leben und so ihre Beziehungen zueinander gestalten. Der Treuebund zwischen den Eheleuten bildet die wichtigste Voraussetzung für die wahre Ehe. Der Mangel an Eintracht birgt eine ernsthafte Gefahr für die Einheit des Ehebundes in sich. Die Erfahrung der familiären Gemeinschaft lehrt den Menschen die Überwindung des sündhaften Egoismus und legt den Grundstein für ein dauerhaftes Bürgerbewusstsein.

Namentlich in der Familie, als der Schule der Rechtschaffenheit, entfaltet und festigt sich das rechte Verhältnis zum Nächsten, folglich auch zum eigenen Volk sowie zur Gesellschaft als Ganzer. Der lebendige Dialog zwischen den Generationen, der in der Familie seine Wurzeln hat, erfährt seine Fortsetzung in der Liebe zu den Vorfahren und dem Vaterland sowie in dem Gefühl der Teilhabe am historischen Geschehen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Zerstörung der traditionellen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, woran der bedauerliche Sittenverfall der modernen Gesellschaft einen erheblichen Anteil hat, besonders negative Konsequenzen nach sich zieht.

Die Ehe darf nicht nur als ein bloßer juristischer Vertrag zwischen Frau und Mann, ein Mittel der Fortpflanzung verstanden werden. Die Herabsetzung des sozialen Stellenwerts der Mutterschaft und der Vaterschaft zugunsten der Berufserfolge des Mannes wie der Frau führt zum einen dazu, dass die Kinder als unnötige Bürde empfunden werden, zum anderen, dass Entfremdung und Widerstreit zwischen den Generationen überhandnehmen.

Die Rolle der Familie für die Persönlichkeitsbildung ist von außerordentlicher Tragweite und kann nicht durch andere gesellschaftliche Einrichtungen ersetzt werden. Die Zerstörung der familiären Beziehungen führt unausweichlich zur Deformation einer normalen Entwicklung der Kinder und hinterläßt langanhaltende, zum Teil auch unaufhebbare Spuren im gesamten Verlauf von deren weiterem Leben.

Ein schwerwiegender sozialer Missstand unserer Tage ist die Verwaisung trotz lebender Eltern. Tausende von ausgesetzten Kindern, die die Waisenhäuser füllen und unter Umständen auch auf der Straße landen, sind ein Beweis für einen unbefriedigenden Zustand der Gesellschaft. Einhergehend mit der geistigen und materiellen Hilfe für diese Kinder sowie deren Einbeziehung in das soziale Leben soll die Gesellschaft ihre Hauptpflicht in der Stärkung der Familie und der Förderung des Verantwortungsbewusstseins der Eltern sehen, damit die Tragödie des ausgesetzten Kindes verhindert werden möge.

Während die Gesellschaft die Rolle der Frau würdigt und ihre politische, kulturelle und soziale Gleichstellung mit den Männern begrüßt, dürfen Tendenzen der Abwertung der Rolle der Frau als Gattin und Mutter nicht geduldet werden. Nicht selten wird einer künstlichen Angleichung der Beteiligung von Frauen und Männern an jeden Bereich menschlicher Tätigkeit das Wort geredet. Die Bestimmung der Frau kann weder in der unreflektierten Nachahmung des Mannes noch im Wetteifer mit ihm gesehen werden, sondern in der Entfaltung aller ihr gegebenen Fähigkeiten, einschließlich derjenigen, die sich aus der ihr eigenen Natur ergeben.

7. Demographiewandel

Besorgniserregend ist die Tatsache, dass sich die bundesdeutsche Gesellschaft gegenwärtig in einer demographischen Krise befinden. Die Geburtenrate sowie die durchschnittliche Lebenserwartung sind deutlich zurückgegangen, die Bevölkerungszahl ist in ständiger Abnahme begriffen. Besonders bedrohliche Folgen können Epidemien, der Anstieg von Herz-Kreislauf-, psychischen, Geschlechts- und weiteren Erkrankungen, desgleichen die Drogensucht und der Alkoholismus zeitigen. Die Zahl der Kindererkrankungen, inklusive der geistigen Behinderung, hat sich vermehrt. Die demographischen Probleme führen zu einer Deformation der Gesellschaftsstruktur sowie zur Verringerung des schöpferischen Potentials der Gesellschaft und werden somit zu einer der Ursachen der Schwächung der Familie.

Demographische Probleme sind Gegenstand der stetigen Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Die Politiker sind berufen, den gesetzgebenden Prozess zu verfolgen, um solche Beschlüsse zu vermeiden, die zu einer Verschärfung der Situation führen könnten.

Zur klaren Positionierung der Gesellschaft in Fragen der Bevölkerungspolitik ist ein ständiger Dialog mit der Staatsmacht sowie den Massenmedien erforderlich.

Der Kampf gegen die sinkende Bevölkerungszahl soll die aktive Unterstützung der wissenschaftlich-medizinischen und der sozialen Programme zum Schutz der junger Mütter, der Leibesfrucht sowie des Neugeborenen einschließen. Der Staat ist gefordert, mit allen verfügbaren Mitteln die Geburt sowie die würdige Erziehung der Kinder zu unterstützen.

Alkoholismus, welcher nach unmerklichem Beginn zahlreiche weitere Probleme nach sich ziehen, soll von der Gesellschaft strengstens verurteilt werden. Sehr häufig führt die Trunksucht den Zerfall der Familie herbei, schafft sowohl bei dem Opfer dieses Lasters als auch bei den ihm nahestehenden Menschen, insbesondere den Kindern, mannigfaches Leid.

Von noch größerem unheilvollem Ausmaß ist die weit verbreitete Drogensucht, für welche besonders die Jugend anfällig ist. Hierin liegt eine große Gefahr für die Gesellschaft. Eigennützige Interessen der Rauschgiftindustrie fördern die Herausbildung einer eigenen Pseudo-Drogenkultur“ - insbesondere im Jugendlichenmilieu. Es darf keinesfalls geduldet werden, dass den unreifen Menschen Verhaltensmuster vorgeführt werden, die den Gebrauch von Drogen als einen „naturgemäßen“ Bestandteil der Kommunikation darstellen.

Der Hauptgrund der Flucht vieler unserer Zeitgenossen in das Reich der durch Alkohol oder Drogen hervorgerufenen Illusionen besteht in der Sinnentleerung des Lebens sowie dem Schwinden moralischer Leitlinien. Drogensucht und Alkoholismus sind Erscheinungsformen des seelischen Krankheitszustands nicht nur des einzelnen Menschen, sondern der Gesellschaft insgesamt. Das ist der Tribut an die Konsumideologie, an den Kult des materiellen Wohlstandsfortschritts sowie den Verlust wahrer Ideale.

Ohne die Notwendigkeit der medizinischen Hilfe in besonders fortgeschrittenen Krankheitsstadien in Abrede zu stellen, soll ein großer Wert auf Prophylaxe, Rehabilitierung und Seelsorge gelegt werden.

8. Kultur und Bildung

Das lateinische Wort cultura („Anbau“, „Pflege“, „Bildung“, „Entwicklung“) stammt aus dem Wort cultus („Verehrung“, „Huldigung“, „Kult“). Das verweist auf die religiösen Wurzeln der Kultur. Kein gesellschaftliches System kann als harmonisch bezeichnet werden, solange die säkulare Weltanschauung das Monopol für die Verkündung öffentlich bedeutsamer Beurteilungen inne hat.

Keine Kultur darf einen Ausschließlichkeitsanspruch geltend machen. Die Gesellschaft bedient sich hierbei der je vorgegebenen kulturellen Formen, die durch die Zeit, die Nation sowie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bedingt sind. Die von bestimmten Völkern und Generationen gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse müssen für andere Menschen mitunter neu interpretiert und ihnen auf vertraute und verständliche Weise nahegebracht werden. Dennoch dürfen die wechselhaften Launen der Welt nicht als Grund für die Verwerfung der würdevollen Erbschaft der vergangenen Jahrhunderte ins Feld geführt werden.

Es wäre wünschenswert, religiöse Grundsätze und Werte, die auf jahrhundertealten Traditionen basieren, zu einem grundlegenden Bestandteil des gesamten Bildungssystems zu machen. In diesem Zusammenhang kann die bewusste Beeinflussung der Schüler und Studenten mit antireligiösen Ideen und die Geltendmachung eines Monopolanspruchs der materialistischen Weltanschauung nicht als wünschenswert betrachtet werden. Die für das 20. Jahrhundert in vielen osteuropäischen Ländern typische Lage, in der sich die staatlichen Schulen befanden - nämlich im Dienst einer militant-atheistischen Erziehung -, darf sich in Deutschland nicht wiederholen. Die Gesellschaft ist aufgerufen, die Folgen der atheistischen Kontrolle über das staatliche Bildungssystem zu beseitigen.

Bedauerlicherweise wird in vielen der heutigen Lehrveranstaltungen zur Geschichte die Rolle der Religion bei der Ausformung des kulturellen Bewusstseins der Völker nicht gebührend gewürdigt. Die Kirche hält die Erinnerung an den Beitrag des Christentums zur Schatzkammer der europäischen Welt- und Nationalkultur unablässig wach.

Bedauerlich sind die Versuche einer unkritischen Übernahme von Unterrichtsstandards, -programmen und -prinzipien, die von Organisationen stammen, die für ihr negatives Verhältnis zur Religion generell oder zur Christentum im besonderen bekannt sind. Desgleichen darf die Gefahr des Eindringens okkulter und neuheidnischer Einflüsse wie auch destruktiver Sekten in die Schule, unter deren Einfluss das Kind sowohl für sich wie auch für die Familie und die Gesellschaft verloren wäre, nicht außer Acht gelassen werden.

Der wahlweise Religionsunterricht an Schulen, auf Wunsch der Kinder oder der Eltern, wie auch an den höheren Bildungsstätten ist ohne Zweifel erforderlich. Die hohe Geistlichkeit soll in einen Dialog mit der Staatsmacht eintreten, der das Ziel einer verfassungsmäßigen und praktisch wirksamen Verankerung des international verbrieften Rechts der gläubigen Familien auf die religiöse Erziehung und Bildung ihrer Kinder verfolgt.

Die Schule ist eine Vermittlerin, die den neuen Generationen die im Laufe der vergangenen Jahrhunderte geschaffenen moralischen Werte weiterreicht. Bei dieser Aufgabe ist die Zusammenarbeit zwischen Schule und Glaubensgemeinschaften gefragt.

Bildung - vor allem für Kinder und Jugendliche - dient nicht nur der Weitergabe von Wissen. Das Entfachen der Sehnsucht im Herzen der Jugend nach der Wahrheit, dem unverfälschten Moralempfinden, der Liebe zu den Nächsten und zum Heimatland sowie zu dessen Geschichte und Kultur ist keine geringere, sondern vielleicht sogar eine größere Aufgabe der Schule als die der Wissensvermittlung. Die Kirche ist berufen und danach bestrebt, der Schule in ihrer erzieherischen Mission Beistand zu leisten, hängen doch von dem geistigen und moralischen Antlitz der Schüler nicht zuletzt die Zukunft der Nation ab.

9. Sprache

Die Herkunftssprachen der Migranten, die z. Z. ein Drittel der gesamten bundesdeutschen Gesellschaft bilden, müssen sowohl seitens der deutschen Politik als auch von den deutschen Massenmedien mit Respekt und Vollwertigkeit angesehen und behandelt werden.

Die Notwendigkeit, eine jeweilige Herkunftssprache auf dem gleichen Niveau wie Englisch, Französisch, Italienisch und andere Prestigesprachen in den deutschen Bildungseinrichtungen zu erlernen, wird begründet durch:

1. Sicherung eines kulturellen und sozialen Zusammenhangs zwischen Kindern und ihren Eltern in den Familien mit Migrationshintergrund;
2. Förderung der natürlichen Bilingualität als positiver Fertigkeit und allgemeiner Bereicherung auch für die gesamte deutsche Gesellschaft;
3. Betrachtung einer jeweiligen Muttersprache als Hilfsmittel zum Erlernen der deutschen Sprache, daher
4.Gründung zweisprachiger Kindertagesstätten, Einführung dieser Sprachen als ständiges Sprachangebot in allen Bildungseinrichtungen wie Grundschulen, Realschulen, Gymnasien, Fach- und Hochschulen sowie Universitäten bei der Berücksichtigung bereits vorhandener positiver Erfahrung (wie z.B. Europaschulen).

Die Möglichkeit, die kulturellen und religiösen Traditionen eines jeweiligen Herkunftslandes im Aufnahmeland durch die Herkunftssprache weiter zu pflegen, fördert die gegenseitige Annährung beider Kulturen, stärkt Respekt und gegenseitiges kulturelles Verständnis, stiftet Frieden, Toleranz und gesellschaftliche Ordnung und ist somit integrationsfördernd in allen Bereichen des bürgerlichen Zusammenlebens.

Eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung ethischer und moralischer Werte spielt die Herkunftssprache als liturgische Sprache und ist somit ein unentbehrlicher Teil des kultur-religiösen Lebens.

Dafür verantworten die jeweiligen religiösen Organisationen (christliche Kirchen, islamische Organisationen, kultur-religiöse Verbände), die ihren Gläubigen nicht nur die religiösen Grundlagen vermitteln, sondern auch für sie de facto Landsmannschaften bilden. Das Verstehen dieser Grundlagen ist für viele notwendig, um ein richtiges Verständnis des religiösen Lebens vermittelt zu bekommen und jegliche Art des religiösen Extremismus oder Fundamentalismus auszuschließen. Diese Kenntnisse sind auch von enormer Wichtigkeit für einen kompetenten und toleranten interreligiösen Dialog, der z. Z. in der Gesellschaft immer mehr an Aktualität gewinnt.

10. Verantwortung der Massenmedien

Die Massenmedien spielen in der heutigen Welt eine immer größer werdende Rolle. Die Kirche achtet die Arbeit der Journalisten, die berufen sind, die breiten Bevölkerungsschichten mit Informationen über das aktuelle Weltgeschehen zu versorgen sowie den Menschen Orientierungshilfen in der heutigen komplexen Wirklichkeit zu geben.

Es ist vonnöten, sich ständig dessen gewahr zu sein, dass die Information des Zuschauers, Hörers und Lesers nicht nur auf der festen Treue zur Wahrheit gründet, sondern ebenso auf der Sorge um den moralischen Zustand der Person und der Gesellschaft, was die Vermittlung positiver Ideale in sich einschließt.

Die Zusammenarbeit mit Massenmedien schließt gegenseitige Verantwortung mit ein. Die Information, die dem Journalisten geliefert und durch ihn an das Publikum weitergegeben wird, soll wahrheitsgetreu sein. Als unstatthaft gilt die einseitige, voreingenommene und nicht objektive Darstellung der Inhalte, die auf Leben der Migrantinnen und Migranten Bezug nehmen, sowie Ausnutzung menschlicher Ängste in den Medien. Ungenaue oder verzerrte Berichterstattung, das Hineinstellen in einen unangemessenen Kontext sowie Verwechslung der persönlichen Meinung des Autors oder einer zitierten Person mit der offiziellen Position kann u. U. ernsthafte Konflikte in der Gesellschaft provozieren.

Die Massenmedien, die einen weitreichenden Einfluss auf das Publikum ausüben, tragen eine nicht zu unterschätzende Verantwortung für die Erziehung der Menschen, insbesondere der heranwachsenden Generation. Die Journalisten und die Leiter von Massenmedien sollen sich dieser Verantwortung stets bewusst sein.

Berlin, den 04.01.2007





Integrationssitzung im Bundeskanzleramt